Let's GO! Gorizia – Wiederentdeckung des österreichischen Nizza

Würde Marcel Proust heute nach Gorizia reisen, könnte er die verlorene Zeit hier finden. GO BORDERLESS! ist das Motto der beiden Kulturhauptstädte Gorizia und Nova Gorizia. Eine Entdeckungsreise in das ehemalige Nizza von Österreich.

Das Eintrittstor nach Italien
Görz, von Max Klinger einst (1857–1920) als das „Eintrittstor von Österreich nach Italien“ bezeichnet, liegt zu Füßen der Julischen Voralpen in einer weiten Mulde des Karsts. Die Nähe zum Meer begünstigt das milde Klima und so mauserte sich die Stadt im 18. Jahrhundert zum beliebten Winteraufenthalt des kakanischen Adels und Bürgertums. Für Geschichtsinteressierte findet sich am Ende dieses Beitrags ein aktueller Buchtipp. Erwähnt sei hier die Namensgebung durch die Görzer Grafen, welche hier die Geschicke der Stadt bis 1500 lenkten. Die Geschichte der Stadt und der Region, die seit Jahrhunderten Schmelztiegel der Kulturen und in vielen politischen Auseinandersetzungen heiß umkämpft war, füllte bereits viele Bücher. Ich wende mich dem Heute zu. Let's go oder andiamo a Gorizia! Frech fahre ich mit meinem Campervan ins Zentrum und finde zu meiner Überraschung genügend Parkplätze für 60 Cent pro Stunde vor.

Italo Pop löst Wiener Kaffehausflair ab
Meinen Erkundungsgang starte ich beim Palazzo Attems-Petzenstein. Palazzo und angrenzender Park wurden vom Architekten Nicolo Pacassi im Barock- und Rokokostil geplant. Einzelne Skulpturen und ein romantischer kleiner Pavillon zieren diese beschauliche Grünanlage, die ich in Richtung Via Garibaldi verlasse. An der Ecke komme ich zum Stadttheater mit dem Café Teatro. Auf den abgewetzten lederbezogenen Sitzbänken und Sesseln saßen anno dazumal Hemingway, Vittorio de Sica, Milva, Eleonora Duse und andere Who’s Who jener Zeit. Wo der Adel zur Kur war, fand sich auch das Künstlertum ein. Bis auf die abgesessenen Sitzmöbel ist der Rest der Einrichtung modern gestylt und, unvermeidlich in Italien, beschallt von lauter Popmusik. Mangels Gehörschutz stürze ich meinen Caffe` hinunter und beobachte heimlich die sechs Carabinieri an der Theke. I Carabinieri gehören zu den bestangezogenen Exekutivbeamten der Welt, denn kein Geringerer als Giorgio Armani war beim Design der Uniformen mitbeteiligt.
Eine Gasse wartet auf den Erweckungskuss
Ich passe mich dem Tempo der Stadt an und lasse mich im gemächlichen Tempo durch die Stadt treiben. Auffallend, die vielen geschlossenen Läden, die zum Verkauf oder zur Vermietung ausgeschrieben sind. Dazu gehören auch jene der einstmals eleganten Einkaufsstraße Via Rastello. Besonders an ihr zeigt sich dramatisch der Niedergang der Handwerks- und Kaufläden. Eine Tabaccheria, einige Antiquitätenläden, Billigshops und zwei Geschäfte für Sozialprojekte dämmeren in der Via Rastello halb schlafen vor sich hin.

Auf einigen verwitterten Ladenschildern ist die österreichische Präsenz noch deutlich zu erkennen, vor allem das Portal von Krainer & Comp. ist außergewöhnlich schön. Meine Nase an die Glaswand pressend, entdecke ich im Inneren eine wunderschöne antike Einrichtung aus Holz und ein Kassahäuschen. Was ich nicht wirklich verstehe ist, dass man dieses Schmuckstück Besuchern vorenthält. Es scheint, als wäre Gorizia nicht sonderlich an touristischer Eroberung interessiert. Diesen Eindruck gibt auch Josef Wallner in seinem Buch "Hinter Triest ein Zauberland" sinngemäß wieder.

Am Ende der Via Rastello, beim Aufgang zur Burg, steht die Statue des Philosophen, Dichters, Zeichners und Malers Carlo Michelstaedter (1887-1910). Sie wurde 2010, anlässlich seines 100. Todestages errichtet. Seine Diplomarbeit mit dem Titel „La persuasione e la rettorica“ (Überzeugung und Rhetorik), gilt bis heute als ein Schlüsselwerk des Gedankens des 20. Jahrhunderts. Carlo nahm sich am 17. Oktober 1910 das Leben. Mit der Statue erweist die Stadt Görz Ihrem berühmten Sohn die Ehre. Auf dem Weg hinauf zum Castello, entdecke ich auf einem Sockel die Büste von Gabriele D'Annunzio. Der Dichter und Nationalist war Treiber für den Kriegseintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg und in Österreich vor allem bekannt aufgrund seines spektakulären Fluges am 9. August 1918 über Wien, wo er 1000 Propagandazettel abwarf.

Die Landung des Doppeladlers
Durch die Porta Leopoldina betrete ich die Burganlage. Dem Habsburger Leopold II., einstmals Großherzog von Österreich-Toskana und für seine humane Regentschaft bekannt, waren in Görz nur zwei Jahre gewährt, bevor er starb. Sein Kenotaph ist in der Seitenkapelle des Doms zu besichtigen. Ruhig und menschenleer ist es im Borgo Castello. Der berühmte slowenische Architekt und ehemalige Otto Wagner Schüler, Max Fabiani plante den Wiederaufbau des Borgo, nachdem die alten Hütten zum Großteil abgebrannt und abgerissen wurden. Die bauliche Handschrift dieses herausragenden Architekten ist auch in der Stadt zu finden.

Das Herz der Stadt ist die Piazza della Vittoria, ein großzügig gestalteter Platz, dominiert von der Chiesa di S. Ignazio mit den beiden Türmen, dem Palazzo Paternolli und dem Neptunbrunnen. In dieser barocken zweitürmigen Kirche finden sich wunderbare Marmordekorationen, ein beeindruckender Altar, Holzschnitzereien und Intarsien aus dem 17. Jhd. Der Neptunbrunnen wurde 1756 vom Bildhauer Marco Chiereghin errichtet. Die Zeichnungen dazu stammen von Nicolò Pacassi.
Nachdem Reiseschriftsteller im 18. Jhd. in den höchsten Tönen über Görz als das österreichische Nizza schrieben, fanden sich zunehmend Adelige und vermögende Bürger ein und bauten sich ihre Palazzi und Villen. Dem Winter im Norden entfloh man nicht nur nach Abbazia, sondern auch in das milde Klima der Görzer Küstenregion.

Heute werden viele der schönen Palazzi für öffentliche Einrichtungen genutzt oder stehen leer und der Zahn der Zeit nagt deutlich an ihnen. Es hat schon einen gewissenen Reiz diese verlorenene Zeit, begleitet vom langsamen Zerfall der Zeugen einer Epoche. Vielleicht finden sich Menschen, die diesen Verfall aufhalten? Im Gedanken versunken weitergehend, stehe ich plötzlich vor der Universität und betrete den angrenzenden Park, wo ich auf eine etwas groteske Nachbildung der Grotte von Lourdes stoße. Die Bezeichnung der Universität lautet richtig: Universita degli Studi`di Trieste Sede di Gorizia.

Loslassen und Heilung
Auf der Piazza Vittorio werde ich im Café Vittorio erneut mit lautem Italo Pop empfangen. Das lässt keinen nostalgischen Kaffeehausflair aufkommen, dennoch bestelle ich un caffè e due canolli bei der freundlichen asiatischen cameriera. Multikulturell war diese Stadt schon immer. Was mich zunehmend beschäftigt ist diese Nichtsensibilität gegenüber der Geschichte und Kultur, der man sich sonst so gerne in diesen ehemals kakanischen Kurorten bedient. Oder erlebe ich hier gerade einen Gegenentwurf zu einer, mit nichts vergleichbaren grausigen Vergangenheit? Zur Erinnerung: 12 Isonzo Schlachten im Ersten Weltkrieg, unterschiedliche Machthaber und Kriege über Jahrhunderte, die Spaltung der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Wohl jede Familie ist hier auf irgendeine Art und Weise davon betroffen. Der Verdacht drängt sich mir auf, als habe sich hier eine kollektive Resilienz wie ein Schutzschirm über der Stadt aufgespannt.
Kulturhauptstadt: GO BORDERLESS!
Es werden Themen aufgegriffen die das 20. Jahrhundert interpretieren sollen. Ein weiteres Projekt ist „come home“. Künstler aus der ganzen Welt wurden eingeladen, in ihrer Geburtsstadt zu wirken. In einem Steinbruch am Fuße des „Heiligen Berges“ soll der Körper der Zukunft gezeigt werden, welche die künstliche Intelligenz mit all ihren offenen Fragen miteinbezieht. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Wiederbelebung des Freundschaftsspazierganges. In Zeiten des Eisernen Vorhanges wurde einmal im Jahr für diesen Marsch die Grenze geöffnet. Der "Besensonntag" gab hierfür den Ausschlag. An einem Sonntag im August, nach der Grenzziehung, spazierten Menschen beider Seiten friedlich und ohne Behinderung durch die Grenzbeamten über die Grenze, um einzukaufen, Kaffee zu trinken, einander wiederzusehen. Die slowenischen Frauen kauften bei den Italienern Strohbesen, weil es solche in Slowenien nicht gab.
Die Staatsgrenze verläuft heute mitten durch die Piazza Transalpina, vor dem Bahnhofsgebäude der Wocheinerbahn. Eine, auf dem Platz eingelassene Gedenkplatte weist darauf hin und so kann ich mit einem Fuß auf der slowenischen und mit dem anderen auf der italienischen Seite stehen. Die Erinnerung an frühere Ankünfte an diesem Bahnhof steigen in mir auf. Zu Fuß habe ich, entlang der Wocheinerbahn Slowenien durchquert und bin von hier weiter durch den Karst nach Triest gewandert.
Die Kulturhauptstadt Gorizia/Nova Gorica will sich entgültig vom Geruch des Blutes und dem Pulverstaub der Kanonen in der Vergangenheit befreien und die Zukunft gestalten. Aktueller könnten die Themen nicht sein und es wird interessant zu entdecken, wie es gelingen wird.

Mercato corperto und gebrauchte Bücher
Nach diesem Exkurs in das Kulturjahr 2025 spaziere ich vorbei am Palazzo delle Torre (darin befindet sich die Fondazione Cassa di Risparmio di Gorizia), zum Mercato Coperto am Corso Giuseppe Verdi. Im Caffe‘ Excelsior neben dem Eingang gönne ich mir ein Glas Refosco, dem typischen Wein aus dem Collio. Gemüse und Blumen erwarten mich im Inneren der Markthalle und ein nettes Gespräch mit einem Händler, der sich freut mit mir Deutsch sprechen zu können. Vor vielen Jahren hat er in Graz gearbeitet. Auf dem Weg zur Piazza San Antonio stolpere ich über die Buchhandlung Libri usati in der Via delle Monache 3. Ein Besuch in dieser Buchhandlung für gebrauchte Bücher ist das Paradies für echte Bücherwürmer. Sobald man die Schwelle überschritten hat, türmen sich vor einem die Bücherberge auf. Das Suchprinzip heißt hier Zeit. Wo, wenn nicht in Gorizia kann sich so ein Buchladen behaupten. Ein Schwätzchen mit der Inhaberin Daniela Modula, bevor es weitergeht.

Hier wird es mondän
Angelangt auf der Piazza San Antonio werde ich wiederum mit der baulichen Großzügigkeit vergangener Zeiten überrascht. Auf der einen Seite steht der Palazzo Strassoldo, heute ein 4-Sterne-Hotel. Ich betrete das Hotel und sehe mich ein wenig um. Das nächste Mal logiere ich hier, verspreche ich mir innerlich. Im Garten dahinter verbirgt sich ein kleines Kloster. Auf der anderen Seite, gegenüber dem Hotel, zieren Arkaden den Palazzo Lantieri. Früher Schloss Schönhaus genannt und aus dem 14. Jhd., soll er im Inneren reich an Fresken sein. Im Innenhof erwarten mich herbstlich bunt gefärbte Gewächs berankte Fassaden, eine Zisterne und eine bemalte Arkade aus Holz. Umgeben von Stille lässt es sich hier kurz und gut verweilen.

Ein sakrales Schmuckstück
Unweit von der Piazza, komme ich zum Dom von Görz. Hinter dem schlicht gehaltenen Portal verbirgt sich ein interessantes Kulturgebäude, in dem wertvolle Kunstwerke und Zeugnisse aus dem Görzer Mittelalter erhalten sind. Das linke Seitenschiff mündet in die Kapelle des Allerheiligsten, die auf das 14. Jhd. zurückgeht und in der man das Kenotaph von Leonardo, dem letzten Grafen von Görz, sowie weitere Grabplatten aus dem 16. Jhd. sehen kann. Sehr berührend ist der Altar mit den Marmorfiguren.

Für kulinarisch Interessierte und Shoppingqueens
Fündig wird man am Corso Italia und am Corso Verdi. Hier ist abends einiges los und es gibt Geschäfte, Bars und Restaurants. Das Restaurant Ai Tre Soldi sei hier erwähnt. Beim Flanieren fällt mir auch hier auf, dass es beschaulich zugeht, man kennt einander, bleibt stehen, hält ein Schwätzchen. Jeder hat Zeit, nur keine Hast.

Getrenntes findet zusammen
Auf der Rückfahrt lege ich noch einen Halt ein, um ein grandioses Naturschauspiel zu fotografieren. Die alte Eisenbahnbrücke der Wocheinerbahn über den Isonzo, ihres Zeichens die älteste gemauerte Bogenbrücke der Welt, spiegelt sich in der Nachmittagssonne so perfekt im Wasser, dass sie sich zu einem vollkommenen Bild zusammenfügt. Ein Symbol für das Zusammenfügen von Getrenntem erkenne ich in diesem Naturspektakel und werte es als starkes Zeichen für Gorizia, Nova Gorizia und den Rest der Welt. Let's GO! Gorizia. GO Borderless Gorizia!
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Gorizia Kulturhauptstadt 2025 Offizielle Eröffnung am 8. Februar.
Weltausstellung Steve McCurry in Trieste im Rahmen der Kulturhauptstadt GO!Gorizia
Link zur Webseite Kulturhauptstadt
Kulturhauptstadt Let`s GO! Gorizia
Buchtipp: Hinter Triest ein Zauberland von Josef Waller Verlag Berger * Horn ISBN: 978-3-99137-039-0
Ausflug ins nahe gelegene Collio Das in fünfter Generation geführte Weingut Primosic:https://www.primosic.com
Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.

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