Aufwachen in Grado
Mein Eckzimmer im Hotel Alla Citta' di Trieste, eröffnet mir allmorgendlich den Blick auf den Kanal entlang der Riva Dandolo auf der einen Seite, zugleich auf die Dächer der Altstadt auf der anderen. Grado, Sehnsuchtsort am obersten Zipfel der Adria. Mare nostrum, wie die Römer ihr Meer nannten. Buongiorno in laguna.
Die Dämmerung am frühen Morgen hat für mich eine fast religiöse Dimension. Zu Hause, wie auch hier in Grado erwarte ich still im Bett liegend, das Wachsen des Lichts in all seinen farblichen Dimensionen. Bis die Sonne hervorbricht. Gedanken kommen und gehen. Bilder und Gefühle längst vergangener Zeiten fliegen mir zu. Damals, als mir das Leben so leicht schien und von jugendlichem Übermut und Spontanität geprägt war: "Schnell auf einen Caffe' nach Udine." Wir waren jung und Italien-verliebt. Mein, inzwischen verstorbener damalige Freund und ich. Er besaß einen Alpha Romeo mit Schiebedach und ich die verrückten Ideen. Im Kassettenrekorder italienische Hits.
Die Anreise
Waren damals Umberto Tozzi, Lucio Battisti, Toto Cotugno und nicht zuletzt Adriano Celentano, unsere musikalischen Reiseführer und Italienischlehrer, höre ich heute nach wie vor Lucio Dalla, il grande cantante d'Italia. In Tarvis fahre ich immer noch auf der alten Bundesstraße, der ehrwürdigen Via Iulia Augusta in den Süden weiter. Sobald die Berge auftauchen, lasse ich Mendelssohns "Italienische Symphonie" erklingen. Sie ist die perfekte musikalische Begleitung für diesen Abschnitt der Reise.
Quellen zufolge flog diese Melodie Mendelssohn, auf seiner Reise nach Italien in einer Reisekutsche durch den Korridor zwischen Österreich und Italien fahrend, zu. In dieser Symphonie wird die Landschaft, welche umgeben von den schroffen Bergen, durchflossen vom Fluß Fella, auf grandiose Weise musikalisch übersetzt. Wer es einmal entdeckt hat, wird die "Italiensche Reise", Symphony no.4 in A major, auf diesem Abschnitt nicht mehr missen wollen. Ich bekomme jedes Mal "Schmetterlinge" im Bauch, als führe ich zu einem ersten Date, wenn analog zum Sanfterwerden der Symphonie, das Sanfterwerden der Landschaft einhergeht.
Dann: "...die Hügel ebnen sich und wir betreten ein weites Land...", wie Konstantin Wecker poetisiert.
Ankommen
Vorbei an Aquileia und Belvedere, durch eine schier endlos führende Allee, bis der Reisenden plötzlich auf dem Damm, der Festland und Insel verbindet, das Herz für einen Schlag aussetzt, weil das, was sich vor ihr auftut, ein Moment ist, wo die Welt den Atem anhält. Rechts versinkt die Sonne blutorangen in der Lagune und taucht die Insel Barbana auf der anderen Seite in ein goldenes Licht.
Um Grado kennenzulernen, empfehle ich das wortgenussreiche Buch von Michael Dangl. "Grado - Abseits der Pfade". Wenn auch, aufgrund dieses Buches, die Geheimtipps nicht mehr geheim sind. Im Übrigen halte ich nicht viel von sogenannten Geheimtipps. Berauben sie den Reisenden der Möglichkeit, eigene Abenteuer zu erleben und das individuell Einzigartige für sich zu entdecken.
Das Eintauchen in die Altstadt von Grado ist sprichwörtlich ein Eintauchen, um irgendwann wieder aufzutauchen, vielleicht am Lungomare oder in der Riva Dandolo, wo die Fischerboote vor Anker liegen.
Ein Ausflugsboot legt gerade ab, um auf die Klosterinsel Barbana zu fahren. Spontan springe ich darauf und bereue es nicht. In der, von den Gradesern geliebten Wallfahrtskirche findet gerade eine Messe statt. Ich mag Messen in anderen Sprachen. Ein anschließender kleiner Rundgang und ein Glas Weißwein, bevor ich durch die sanfte Lagune zurückfahre. Die dunklen Regenwolken hängen tief und harmonieren farblich mit dem Grau des Wassers der Lagune. Vogelkolonien sitzen auf den vereinzelten Sandbänken und beobachten gelangweilt das vorbeifahrende Boot.
Biagio Marin - il grande poeta di grado
In einer Buchhandlung kaufe ich mir das einzige deutschsprachige Buch, das man lesen MUSS, will man in die Seele der Menschen der Lagune und auf diese selbst einen Blick werfen. "Grado, die von Gott begnadete Insel". Der Autor Biagio Marin, von den Gradesern wie ein Heiliger verehrt, verfasste eine einzige Liebeserklärung in seinen, im Gradeser Dialekt verfassten Gedichten und Texten. Der Besitzer der Buchhandlung ist begeistert, als ich nach dem Buch frage. "Ganz selten", so erzählt er mir, "fragen Touristen nach diesem Buch".
"Ich bin keine Touristin, sondern eine Reisende"
antworte ich ihm und er lächelt anerkennend.
"Und jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde sind voll von Licht und guter Bestimmung"
(Biagio Marin)
Ein wundervolles Buch und jedes Wort ein Genuss. Einsam, am Strand sitzend, lese ich mir selbst daraus laut vor. Ich liebe Sprache und ich liebe Worte und diese Worte verdienen es, laut gelesen zu werden.
Zurückgekehrt in der Altstadt wird es Zeit, dem Gaumen einen weiteren Genuss zu gönnen. Die vielfältige und kreative Küche Grados, hat dafür einiges zu bieten. Vor allem liebe ich es in Italien als alleinreisende Frau, respektvoll mit "Signora" angesprochen zu werden. Ich bekomme einen schönen Tisch zugewiesen und werde von den Kellnern hofiert und sofort bedient. Mi piace. Das Italienisch fällt mir immer leichter und ich fange nach ein, zwei Tagen bereits an, auf italienisch zu denken und zu träumen. Zwischen den Gängen genieße ich die Worte im Buch von Biago Marin und beschließe, es auch in seiner Originalsprache zu kaufen, dem Gradeser Dialekt. Ich verstehe es zwar nicht, doch genügt mir die Melodie der Worte.
Bei Sonnenuntergang lustwandle ich (im wahrsten Sinne des Wortes) auf der Promenade und lausche einem einsamen Akkordeonspieler. Ganz bei mir, ganz da.
Am nächsten Tag leihe ich mir im Hotel ein Fahrrad aus. Mit dem Rad könnte ich sogar bis zur Isonzo Mündung fahren. Es sind 40 Kilometer hin und zurück. Doch genieße ich lieber die Lagune. Schaue, schreibe, fotografiere und besuche den Friedhof und das Grab von Biagio Marin, dessen Worte mich in diesen Tagen so wunderbar begleiten. Die Lagune hat eine ganz eigene Atmosphäre. Hier kann ich die Stille hören, die von Vogelstimmen und dem Säuseln des Windes untermalt wird. Den salzigen Geruch des Wassers tief einatmend mache ich immer wieder Halt, um zu schauen und zu staunen. Hie und da ein vorbeifahrendes Fischerboot.
Abschied
Die Fahrt nach Hause geht selbstverständlich wieder auf der Via Iulia Augusta. Diesmal begleitet mich Guiseppe Verdi mit "Aida" durch die friulanischen Dörfer. Der Caffe' in Udine und ein kleine Rundgang durch die Altstadt dürfen nicht fehlen. Es ist Samstag und es ist Markt.
Venzone ist der letzte Halt, bevor es wieder in die Berge geht. Die Lavendelstadt, die vom Erdebeben 1976 fast zur Gänze zerstört wurde, ist heute original wiederaufgebaut und auf jeden Fall einen Besuch wert.
Es wird Zeit weiterzufahren und die Katze, die es sich während meines Besuches im Ort Venzone auf meiner Kühlerhaube bequem gemacht hat, zieht beleidigt ab.
Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.
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