Die berühmteste Wurstsemmel der Oststeiermark

Es gibt Tage, da muss ich eine Wurstsemmel haben, und zwar eine Spezial-Wurstsemmel vom Gemischtwarenladen nebenan. Tatsächlich gibt es so einen noch bei uns. Angelika, die Inhaberin, ist bekannt für ihre besonderen Wurstsemmeln, die sie individuell für ihr Klientel kreiert. Meine ist mit Extrawurst, Essiggurken, Gouda und Mayonnaise. Ein kulinarisches Trostpflaster, das ich mir aus meiner Kindheit mitgenommen habe. Die Tröstung tritt ein, sobald ich in die frische Semmel hineingebissen habe. Gesundheitsapostel können mir dabei gestohlen bleiben und während des Verzehrs dieser Köstlichkeit, denke ich an die Geschichte jener Frauen, die hinter dieser seit drei Generationen stehen.

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Die Anfänge

Eine frisch gebackene Lehrerin erreichte 1947 den Bahnhof Waisenegg. Ein, von der übrigen Welt vergessener Ort im nördlichen Feistritztal in der Oststeiermark. Die Bahnstation lehnte etwas windschief an einem bewaldeten Hügel und entlang der Schienen schlängelte sich die Feistritz durch das Tal. Ein kleiner Pfeil wies den Weg bergauf, durch einen dunklen Fichtenwald, in den Ort. Etwas schockiert fand die junge Frau wenige Häuser vor, darunter das abgebrannte Schulhaus, einige Bauernhöfe und ein Haus, in dessen zugigem Dachboden die Notschule untergebracht war. In diesem Dachboden der Familie Berger trat meine Mutter ihren Dienst als Lehrerin an.

Nachdem die Schule wiederaufgebaut war, eröffnete Steffie Berger in ihrem Haus bald darauf ein kleines Gemischtwarengeschäft. Sie und meine Mutter sollten ein Leben lang in Freundschaft verbunden bleiben.

Die erste Generation Kauffrauen

Steffi Berger war die erste Unternehmerin im Ort, was beachtenswert ist, angesichts des konservativen Frauenbildes, das damals noch bei uns herrschte. Ich erinnere mich, wie ich für einen Schilling ein Eis oder eine Schokolade gekauft habe. Weniger heldenhaft war, dass ich einmal ein Zuckerl aus dem großen Glas stahl und prompt von Frau Berger erwischt wurde. Es war ihr Versprechen, es meinen Eltern nicht zu sagen, und ich versprach, niemals wieder zu stehlen. Dies war eine prägende Erfahrung, weil ich mich fürchterlich schämte. Gelegentlich kaufte mir meine Mutter eine Extrawurstsemmel mit Essiggurken. Das war für mich wie Geburtstag und Weihnachten zusammen.

Als Teenager holte ich des Öfteren „für meinen Opa eine Schachtel Smart Export“, um mir einmal von Frau Berger augenzwinkernd sagen zu lassen, ob er die Schachtel, die er vor einer Stunde geholt hatte, schon verraucht hat. Natürlich gab sie mir die Zigaretten nicht heraus. Steffi Berger kannte alle Tricks von uns Jugendlichen und war eine unhinterfragte Autoritätsperson. Sie hatte stets ein offenes Ohr für ihre Kunden und Kundinnen.  Man hatte Vertrauen zu ihr und vertraute ihr auch persönliche Dinge an, was sie nie ausnutzte.

Die zweite Generation

Nachdem Friederike, eine ihrer Töchter, den Laden übernommen hatte und damit in das neben errichtete Wohnhaus übersiedelte, eröffnete Steffi im fortgeschrittenen Alter ein Gasthaus, das weit und breit wegen seiner legendären "Kaffeejause" bekannt war. Anmerkung: Die Waisenegger „Kaffeejause“ einmal in der Woche ging meist in ein lustiges und weinseliges Miteinander über, was die Bürgerinnen im nahe gelegenen Birkfeld neidvoll zu manchem Tratsch inspirierte.

Auch in der zweiten Generation Kauffrauen in Waisenegg ging es nach bekannter Manier weiter. Friederike, von allen Frieda genannt, stand jahraus, jahrein im Geschäft und die Wurstsemmel-Ära kam in Schwung. Man konnte sich schon mehr leisten und die Spezial-Wurstsemmel nach individuellen Wünschen war erfunden. Selbst Mac Donalds konnte da nicht mithalten. Die Semmeln kamen täglich frisch vom Bäcker in Birkfeld.

Ein kleines Geschäft behauptet sich

Die ersten Supermärkte in der Region eröffneten und die kleinen Geschäfte kamen in große Bedrängnis. Frieda, die wie ihre Mutter weltoffen, hilfsbereit, diskret und sehr beliebt war, stemmte sich erfolgreich dagegen. Alles, was für den täglichen Bedarf gebraucht wurde, bekam man und darüber hinaus bot sie Serviceleistungen an, wie Jausen Platten und Geschenkkörbe. Die Schülerinnen und Schüler holten ihre Schulsachen, die Arbeiter der angrenzenden Zimmerei, ihre Vormittagsjause. Das Geschäft war eine stabile Konstante in sich rasch verändernden Zeiten.  Diese lebenslustige Frau mit ihrem trockenen Humor war ebenso eine Autoritätsperson, wie ihre Mutter. Doch einmal im Jahr verließ Frieda ihr Geschäft und fuhr auf Urlaub nach Südtirol. Die Kastelruther Spatzen hatten es ihr angetan und die begeisterte Wanderin war ihr größter Fan bis zu ihrem Lebensende.

Die dritte Generation

Die Jahre vergingen und die dritte Generation trat in die Reihe der Waisenegger Kauffrauen ein. Friedas älteste Tochter Angelika übernahm das Geschäft und die Wurstsemmeltradition war gerettet. Kaum zu glauben, dass sich dieses kleine Geschäft neben der übermächtigen Konkurrenz von so vielen Supermärkten in unmittelbarer Nähe hält. Das ist auch dem Zusammenhalt der Einheimischen geschuldet, die ihrem Dorfladen treu bleiben. 

Wer weiß, vielleicht trägt dazu auch die inzwischen berühmte Spezial-Wurstsemmel bei. Arbeiter, Vertreter und Durchreisende machen den Umweg über Waisenegg, um sich eine solche, zubereitet nach persönlichem Gusto, zu holen. Wie ihre Großmutter und Mutter hat auch Angelika ein offenes Ohr und eine diskrete Persönlichkeit. Sie öffnet auch sonntags die Tür, wenn wieder einmal bei jemandem etwas ausgegangen ist. Besonders die kleinen Volksschulkinder lieben sie, kaum bis zur Theke reichend, suchen sie sich Süßigkeiten aus und vertranscheln (Steirisch: für unnötigen Tand und Süßigkeiten Geld ausgeben) ihr Taschengeld. Es macht Spaß, zuzuschauen, wenn die Kleinen im Geschäft herumwuseln.  

In Vertretung aller Spezial-Wurstsemmel-Fans sage ich DANKE!

Was hätten wir ohne Angelika in den Lockdowns gemacht! Alles, was für den täglichen Bedarf gebraucht wurde, war da. Tagaus, tagein stand Angelika im Geschäft und war, trotz großer Sorge um ihre inzwischen sehr kranke Mutter, für die Kundinnen und Kunden da. Eine wahre Heldin. Sie und ihr Mini-Supermarkt sind eine Waisenegger Institution und niemand kann sich vorstellen, dass es dieses Geschäft einmal nicht mehr gibt.

Den Wert eines fußläufig erreichbaren Nahversorgers kann man gar nicht hoch genug einschätzen, deshalb bleibt zu hoffen, dass Angelika noch lange in ihrem Geschäft steht und unsere Spezial-Wurstsemmeln macht. Von Herzen DANKE dafür.

Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.

Ingeborg B. Hofbauer

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