Die Kunst allein zu reisen
In mir schlummert eine Abenteurerin! Schon als junge Frau habe ich die Reisegeschichten von allein reisenden mutigen Frauen, wie Gertrude Bell, Martha Gellhorn, Alexandra David Neel, Ida Pfeiffer und anderen verschlungen. Sie sind meine geistigen Mütter, die mich prägten. Aufzubrechen, um die Welt zu entdecken und sich eine Zeit lang von allen Zwängen, Rollen und Verantwortungen zu befreien. Einmal im Leben sollte man eine Reise allein unternehmen.
Es ist wieder Zeit, aufzubrechen
Vor 15 Jahren erfuhr ich, wie sich Freiheit anfühlt, als ich den Spanischen Jakobsweg alleine pilgerte. Viele Solopilgerwanderungen in Österreich, Slowenien, Deutschland, Italien, Portugal und immer wieder Spanien folgten. Mit 61 Jahren kaufte ich mir einen Van und baute ihn zum Wohnmobil um. Ohne Frage mache ich gelegentlich Kurztrips mit Herzensmenschen, doch muss ich mehrmals im Jahr alleine aufbrechen, weil das Leben selbst mich ruft und nur auf Soloreisen begegne ich dem Leben in Echtzeit.
Allein ist man mehr zusammen
Dieser Kitzel, bevor ich aufbreche, das akribische Abarbeiten meiner, inzwischen perfekt gewachsenen Checkliste für Campingreisen, der Autocheck, das Recherchieren und Planen, mitunter Reservieren von Slots und Stellplätzen. Kein bequemes Delegieren an jemand anderen, nein, die Verantwortung liegt ganz bei mir. Unzählige Male gehe ich die Liste durch, bis der Tag der Abreise da ist, ich meinen Camper Freddie starte, die Playlist aufdrehe und losfahre. Leben, ich komme!
Konzentriert und hellwach genieße ich meine Fahrt, achte gut auf meine Bedürfnisse, raste alle zwei Stunden. Meine Sensoren sind hochaktiv und bereit, sich jeder Situation neu anzupassen. Informationen, Erlebtes, Eindrücke, wie auch durch Fehler Dazugelerntes speichere ich, um diese in entsprechenden Situationen abrufen zu können. Es ist ein unglaublich starkes Gefühl des Lebendig-Seins, aber auch sehr ermüdend. Ich kenne meine Grenzen und passe mein Reisen, meinen Ressourcen an. Denn es ist niemand sonst da, der auf mich schaut. Nach 17 Uhr ist mit mir nichts mehr zu machen, da muss ich einen Stellplatz oder meine Unterkunft erreicht haben, da ist die Luft draußen. Nirgendwo lernt man sich und seine Bedürfnisse besser kennen als beim Alleinreisen.
Abends sitze ich bei meinem Bus, diniere, schreibe meine Tageseindrücke bei einem Glas Rotwein nieder. Mitunter beobachte ich andere Camper, meist Paare vor ihren riesigen komfortablen Wohnmobilen sitzend und mit dem eigenen Handy beschäftigt. Zweisamkeit, die verdächtig nach Einsamkeit aussieht. Es gibt auch andere alleinreisende Frauen, sehr selten Männer. Man unterhält sich, doch wie eine stille Übereinkunft spürt man, dass jede für sich sein möchte. Allein ist man mehr zusammen.
Zu einer neuen Stärke heranwachsen
Die täglichen Herausforderungen müssen allein gemeistert werden. Es gibt Situationen, die mich meine ursprünglichen Pläne überdenken lassen und mich aus meinen gewohnten Verhaltensmustern herausholen. Wichtig dabei ist, in sich gut hineinspüren zu können, um zu erkennen, was ich IN DEM MOMENT wirklich brauche. Eine gute Übung für den Alltag. Darüber hinaus ist der kundige Umgang mit dem Smartphone sehr hilfreich. Wo finde ich einen schönen Campingplatz, wo gibt es die nächste offene Autowerkstatt, Supermarkt, Restaurant, Arzt und so weiter.
Alleinsein heißt noch lange nicht einsam sein
Natürlich fühle ich mich auf einer Soloreise bisweilen allein. Vor allem dann, wenn ich einen anstrengenden Tag hatte und abends erschöpft und allein bei meinem Camper oder in meinem Quartier sitze. Das ist völlig normal. Allein reisen ist nicht gleichbedeutend mit Einsamkeit. Alleinsein ist der neutrale Umstand, dass keiner neben einem steht. Einsamkeit stellt ein anderes, unangenehmes Gefühl dar. Einsamkeit ist eine Emotion, die häufig mit der Erfahrung des "im Stich gelassen sein" oder "des sich nicht verstanden fühlen" stark verknüpft ist. Alleinsein hingegen kann eine positive Erfahrung sein. Wenn ich mich auf Soloreisen einsam fühle, weiß ich, wer mir fehlt und das sind geliebte Menschen, die ich jederzeit anrufen kann. Diese Einsamkeit kann das Gefühl der Verbindung zu geliebten Menschen bewusst machen und stärken. Am nächsten Morgen ist die Einsamkeit wie weggeblasen und ein neuer Tag wartet mit neuen Abenteuern auf.
Abseits aller Rollen
Im Alltag passt man sich gerne den Erwartungen anderer an und die Gefahr, sich von sich selbst zunehmend zu entfernen, steigt. Ich mache mich auf in die Fremde und begegne anderen (noch) fremden Menschen. Hier kann ich vollkommen authentisch sein, denn diese "Fremden" haben mich noch nicht in ihre persönliche Schublade gesteckt, begegnen mir erwartungsfrei und ohne Vorurteile. Ach, wie schön und befreiend! Ich sehe mich mit den Augen des Gegenübers und entdecke mich neu. Das ermutigt mich, auch daheim zu mir zu stehen und meinen Bedürfnissen und Erwartungen Raum und Ausdruck zu verleihen.
Beim Reisen in einen Dialog treten
Vor einer Reise, mache ich mich auf verschiedenen Kanälen kundig. Dokumentationen auf You Tube, entsprechende Reiseführer und im Internet. Vor allem nähere ich mich einem Land über seine Künstlerinnen und Künstler an. Bepackt mit den entsprechenden Büchern und ausgewählten Musikstücken auf meiner Playlist, breche ich auf und tauche ganz in die Seele eines Landes ein. Eine Seele, die von Kunstschaffenden des Landes sichtbar gemacht wurde. Es ist Reisen im doppelten Sinn. Die äußere Landschaft wird mit allen Sinnen wahrgenommen und ich trete in einen inneren Dialog mit ihr. Die Kunst, die Musik und die Worte der Dichterinnen und Dichter sprechen mich an und ich werde berührt und anschließend, am Abend oder schon zu Hause drängt es mich, darüber schreiben, um all das Wunderbare zu reflektieren.
Raum für Spontanität
Das Alleinreisen räumt der Spontanität ein breites Feld ein. Am Morgen wird die Landkarte aufgefaltet und ein grobes Ziel festgelegt. Während der Fahrt laden plötzlich Wegweiser zu neuen Zielen ein und spontan, dem Gefühl folgend, wird abgebogen. Das hat mir schon großartige Plätze offenbart und neue Erfahrungen beschert.
Allein speisen, kein Problem
Das allein speisen war am Anfang meiner Soloreisen eine Herausforderung. Heute betrete ich selbstbewusst ein Restaurant und lasse mir einen Tisch zuweisen. Immer habe ich ein Buch dabei, um zwischen den Gängen darin zu lesen oder ich mache Notizen. Das Handy ist tabu, ich finde es geschmacklos beim Essen auf das Handy zu starren. Viel lieber beobachte ich das Treiben um mich herum und zuweilen ergibt sich das eine oder andere Gespräch mit anderen Gästen.
Genießen statt hetzen
Bei einem aperitivo oder einem caffé in einer Bar, auf der Piazza oder am Strand zu sitzen, Ansichtskarten zu schreiben und das Treiben um mich herum zu beobachten, sind für mich Höhepunkte jedes Reisetages. Ansichtskarten schreiben ist ein Kulturgut, das nicht verloren gehen darf. Auch wenn diese erst Wochen nach der Rückkehr bei den Empfängern ankommen. Eine Ansichtskarte vermittelt Wertschätzung, finde ich. Ich bin eine passionierte Ansichtskarten-Schreiberin.
Nebenwirkungen des Alleinreisens
Die Lust, allein zu verreisen hat den Wunsch verstärkt, mich mit Menschen, denen ich begegne zu unterhalten. Das wiederum hat den Nebeneffekt, dass ich meine Sprachkenntnisse in Englisch und Italienisch permanent erweitere. Immer wieder entwickeln sich spontane Gespräche und schöne Begegnungen. Die Motivation, einen Grundwortschatz der Sprache des jeweiligen Landes zu erlernen, ist groß. Jedenfalls bei mir.
Lust bekommen? Mein neues Buch Italia da sola - 100 Tage, 100 Orte, 100 Glücksmomente macht Mut, allein aufzubrechen.
Mut steht am Anfang, am Ende steht das Glück!
https://www.mutkompetenz.at/italia-da-sola-leseprobe/
Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.
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