Pilgern macht den Kopf frei und das Herz weit
Wenn ich vor einer persönlichen oder beruflichen Neuorientierung stehe, breche ich zu einer Pilgerwanderung auf. Diesmal zum Johannesweg im Mühlviertel.
Der Johannesweg im Oberösterreichischen Mühlviertel
Schon Goethe sprach vom Ruf der Seele und in der Bibel finden wir unzählige Beispiele dafür, wie Gott die Menschen ruft. Auch ich verspüre immer wieder den Ruf, aufzubrechen, um mich allein auf den Weg zu machen.
Ende August letzten Jahres spürte ich wieder diesen starken inneren Drang, allein auf eine Pilgerwanderung aufzubrechen. Die Suche nach einem Pilgerweg gestaltet sich bei mir immer wieder auf eine besondere Art und Weise. Nicht ich finde den Weg, sondern der Weg findet mich. So auch dieses Mal. Eine Kundin machte mich auf den Johannesweg in Oberösterreich aufmerksam. Dieser wurde erst vor ein paar Jahren, vom Linzer Dermatologen Johannes Neuhofer, initiiert. Das entsprechende Buch war bestellt und im Internet machte ich mich kundig. Vier Tage für 84 Kilometer entsprachen genau meinen Vorstellungen. Die Aufbereitung des Johannesweges ist sehr professionell und hilfreich. Eine eigene Homepage leistet hervorragende Dienste bei der Planung. Karte, Pilgerpass, Unterlagen über Unterkünfte und wichtige Kontakte sowie Wegbeschreibung werden einem freundlich mit der Post zugeschickt. Doch es braucht im Grunde keine Karte und keine Wegbeschreibung für die Wanderung selbst. Der Weg ist außerordentlich gut markiert. Die zwölf Stationen, die im Buch „Der Johannesweg - So finden Sie zu Einkehr und Zufriedenheit“ von Johannes Neuhofer auf humorvolle und auch tiefgründige Art und Weise beschrieben sind, laden zum Innehalten und zum Nachdenken ein. Den Beweis, dass das Pilgern im 21. Jahrhundert angekommen ist, liefert das „Johannesweg-App“, welches, wenn man es auf dem Smartphone installiert, die Möglichkeit bietet, die einzelnen Stationen, zwölf an der Zahl, elektronisch zu bestätigen. Am Ziel angekommen, bekommt man nach Vorzeigen der bestätigten Stationen zur Belohnung eine „Johannesweg-Nadel“ in Form einer Lilie.
Das Unterwegssein
Der Johannesweg wurde nach Johannes dem Täufer benannt und hat damit einen starken religiösen und spirituellen Hintergrund. Der Gedenktag für die Geburt ist der 24. Juni, der Gedenktag für die Enthauptung ist der 29. August. Der Tag meiner Ankunft am Ziel fiel genau auf den 29. August. Zeichnet man den Wegverlauf des Johannesweges auf der Karte nach, gleicht dieser der Form einer Lilie. Ein sehr positives Symbol, denn die Lilie steht für Liebenswürdigkeit, Reinheit, Liebe, Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, Einheit und Vergänglichkeit. Eingehüllt in diese Symbolik ließ ich mich bewusst und achtsam auf den Weg ein. Denn Pilgern bedeutet für mich immer wieder, mich einzulassen auf etwas, das mir vorher noch fremd war. Peregrinatus, der Fremde in der Fremde, so die lateinische Bedeutung. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, weniger nach innen zu schauen bzw. zu hören, vielmehr wollte ich das Außen bewusst wahrnehmen. Die Schönheit um mich herum entdecken und meine Sinne dafür schärfen: hören, riechen, sehen, schmecken und fühlen.
Bei meinen Pilgerwanderungen achte ich immer darauf, dass der erste Tag nicht übermäßig anstrengend ist. Der Körper muss sich langsam an das lange Gehen und den schweren Rucksack gewöhnen. Der Johannesweg führt zum Großteil auf Wald, Wiesen und Naturpfaden und vermeidet weitgehend die Asphaltstraßen. Die Erntezeit war bereits angebrochen und auf den Feldern wurden vor allem die Mais- und Kartoffelernte eingebracht. Ein klassischer „Altweibersommer“ mit Temperaturen um die 30 Grad und in den Bauerngärten, an denen ich vorbeiging, blühten farbenprächtig, zwischen dem Herbstgemüse, Astern und andere Herbstblumen. Mir begegneten Reiterinnen und Reiter hoch zu Ross, was ein wenig Neid in mir hervorrief, aber um Goethe erneut zu bemühen, tröstete ich mich mit dessen Worten: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen.“ Entlang des Pilgerweges fand ich viele kleine und größere spirituelle Einrichtungen: Kirchen, Kapellen, Pestkreuze und Marterl, die liebevoll restauriert und geschmückt sind. Die Kirchen und Kapellen standen einladend für ein kleines Gebet oder eine stille Rast offen. Ich liebe es nachzulesen, was die Pilgerinnen und Pilger, die vor mir hier waren, hineingeschrieben hatten: Gebete, Sätze der Freude, Dankbarkeit und Wünsche waren hier zu lesen. Durch dieses Aufschreiben der inneren Beweggründe entsteht eine gewisse Verbundenheit mit diesen Menschen, die vor mir da waren. Auch ich fügte meine Gedanken, die mich gerade bewegten, dazu. Doch nicht nur diese religiösen Orte laden zum Innehalten ein, sondern auch andere schöne Plätze. Dazu gehörte ein Rundgang auf der Ruine Prandegg. Die am Fuße der Ruine liegende Taverne bietet Schlafkojen an und ist ein ideales Ziel für den ersten Tag. Wer, so wie ich aber komfortablere Nächtigungsmöglichkeiten vorzieht, kann drei Kilometer vorher im Biobauernhof Kriechbauer in Pehersdorf übernachten.
Die vielfältige Landschaft des Mühlviertels mit den mystisch anmutenden Wäldern, in denen sich zahlreiche, respekteinflößende Steinmonumente, die sogenannten Findlinge, befinden, gewinnen einem ein gewissen Maß an Ehrfurcht ab. Vor allem wenn man so mutterseelenallein vorübergeht. Da überkommt einem mitunter das Gefühl, als würden diese Steine lebendig sein und spontan fiel mir eine indianische Weisheit ein: „Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen.“ Manche dieser mächtigen Riesen kann man über einen gesicherten Aufstieg besteigen, um mit einer herrlichen Aussicht auf die Mühlviertler Alm belohnt zu werden. Einer davon ist der Herzogreith. Vor allem dieser Abstecher verlangte mir einiges an Kräften ab, denn der Aufstieg durch den Wald bis zum Stein war anstrengend und sehr steil. Während ich hochkeuchte, kam mir ein Zitat von Peter Handke in den Sinn: „Das Bergaufgehen tut der Seele gut.“ Philosophierend darüber, was er damit gemeint haben mochte, erreichte ich schweißgebadet endlich den mächtigen Stein. An dessen Fuße entledigte ich mich meines Rucksackes und kletterte leichtfüßig wie eine Gämse und mit Hilfe der Sicherungsseile auf das Plateau mit dem Gipfelkreuz. „Ja!“, sie hatte sich gelohnt, die Schinderei, denn die Aussicht war grandios. Bevor ich mein Tagesziel in Weitersfelden erreichte, traf ich zwei Pilgerinnen und wir setzten den Weg gemeinsam fort. An einer Flussmündung entledigten wir drei Frauen uns spontan unserer Schuhe und Socken, wateten im kalten Wasser, kühlten uns ab und hatten richtig Spaß. Das ist das Schöne, wenn man allein unterwegs ist. Die Offenheit für Begegnungen und gemeinsame spontane Erlebnisse. Ohne Wertungen, ohne Verpflichtungen und Abhängigkeiten. Danach herzliche Verabschiedung und vielleicht oder auch nicht begegnet man einander wieder.
Die Herausforderung
Im Vergleich zu anderen Pilgerwegen ist der Johannesweg körperlich sehr herausfordernd. 2800 Höhenmeter auf 84 Kilometer, was mit dem schweren Rucksack, der doch 10 Kilogramm, inklusive Trinkbeutel, auf die Waage brachte, eine Herausforderung für mich war. Hinauf bis knapp 1000 m und dann wieder hinab in die Flußtäler der Naarn, der Schwarzen und Weißen Aist. Die Streuobstwiesen mit Apfel- und Zwetschkenbäumen, deren Äste vom Gewicht der Früchte bis auf die Erde gedrückt wurden, lieferten mir fruchtige Stärkung. Der Herbst in seiner Fülle rief helle Begeisterung in mir hervor. Auch die wunderschön hergerichteten Vierkanthöfe beeindruckten mich. In einigen von ihnen kann man übernachten und dafür spricht einiges: Das gesunde Abendessen aus eigener Produktion, die freundliche Familie, der selbstgemachte Most von den Bioäpfeln, ein schönes Zimmer und ein reichhaltiges Frühstück. Was braucht die Pilgerin mehr, um für die nächste Tagesetappe gestärkt zu sein.
Kraftplätze
Am dritten Tag stieg ich hinauf zum Wallfahrtskirchlein auf 989 Metern am Kammererberg, das der Heiligen Dreifaltigkeit geweiht ist. Diese Wallfahrtskapelle wurde anstelle eines Bildbaumes mit dem Bild der Heiligen Dreifaltigkeit gebaut, nachdem ein Blitz in den Baum eingeschlagen hatte und der Baum zerstört wurde. Das Bild blieb auf wundersame Weise unversehrt. Auf dem Weg dorthin kam ich am Biohof „Thauerböck“ vorbei. Ein „Schnapspavillon“ im Freien, der zur freien Verkostung einlud, und der Bioladen im Haus erregten meine Neugier. Die Seniorbäuerin hatte gerade frische Zimtschnecken aus dem Ofen geholt und lud mich zu Kaffee und dieser Köstlichkeit ein. Der Hofladen birgt aber auch andere Schmankerln aus eigener Produktion. Unter anderem Produkte aus Pechöl. In den letzten Tagen ging ich an Wegweisern vorbei, die zu den sogenannten Pechsteinen führten. Bis zum Thauerböckhof konnte ich mir nicht vorstellen, welchen Zweck diese hatten. Der Jungbauer und seine Frau haben diese uralte Tradition der Erzeugung von Pechöl wiederaufleben lassen und produzieren dieses alte Hausmittel. Es soll bei Sehnenverletzungen, Fersensporn, eitrigen und entzündeten Wunden, Rheuma, Ischias, Gicht und Gelenksentzündungen helfen. Voller neuer Eindrücke, mit einem Gläschen Schnaps intus und einer Dose Pechölsalbe, die mir an diesem Tag noch gute Dienste leisten würde, setzte ich meine Wanderung fort. An diesem Tag konnte ich die Servicequalität des Johannesweg-App testen, denn zehn Kilometer vor dem Ziel musste ich aufgeben, weil sich zahlreiche blutige Blasen an meinen Fersen gebildet hatten. Das angeforderte Taxi war in 20 Minuten da und brachte mich nach Königswiesen in mein Quartier. Nachdem ich meine Blasen mit der neu erstandenen Pechölsalbe und Pflaster gut versorgt hatte, nützte ich die frühere Ankunft, indem ich den Ort mit der gotischen Marien-Wallfahrtskirche besichtigte. Weltberühmt und wirklich sehenswert sind die gotischen Schlingrippengewölbe.
Ankommen
Ausgeruht startete ich in den letzten Tag meiner Pilgerwanderung. Wie durch ein Wunder waren meine Blasen mit Hilfe der Pechölsalbe vom Thauerböckhof fast verheilt. Im Hotel traf ich beim Frühstück wieder die zwei Pilgerinnen. Da mir aber auch an diesem letzten Tag nicht nach Gesellschaft beim Gehen war, brach ich nach einer herzlichen Verabschiedung, wieder allein auf. Auch dieser letzte Tag führte durch eine vielfältige Landschaft: Nach Königswiesen durchwanderte ich ein bewaldetes Tal und stieg hinauf auf eine weite Alm. Das Wetter war trüb und regnerisch, jedoch angenehm kühl. In einem Dorfgasthof aß ich eine heisse „Klachelsuppe“, das ist eine Spezialität der Region und zog mich um, da es inzwischen in Strömen regnete.
Ein letzter Aufstieg stand mir an diesem Tag noch bevor: die Burgruine Ruttenstein. Ein Abstecher hinauf zu Burg und danach ein kleiner Seitenschwenk in die Taverne, wo ich mich bei Kaffee und warmen Topfenstrudel für den letzten Abschnitt stärkte. Gut geschützt unter meiner knallig orangen Regen-Pelerine wanderte ich singend durch einen stillen Wald abwärts und weiter durch das enge Naarntal, das links und rechts von schroffen Felsenwänden begrenzt ist. Der Pfad führte dicht am Bach, an zum Teil überhängenden Felswänden vorbei hinaus zum Ort Pierbach, das mein Ziel und gleichzeitig mein Ausgangspunkt war. Eine schöne Metapher die für den Pilgerweg und gleichzeitig auch für den Lebensweg steht: Das Ende ist gleichzeitig der Anfang.
Über die Autorin
Ingeborg Berta Hofbauer ist eine begeisterte Reisende und Entdeckerin von neuen Orten und ihren Menschen. Deren Geschichten dahinter faszinieren sie und inspirieren sie zu ihren Büchern und Blogs. Sie reist vorwiegend mit ihrem Camper und der Bahn und verzichtet weitgehend auf Flugreisen.
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